Visuelles und akustisches Marketing kennen wir zu gut: Plakatwände, Werbespots im TV oder blinkende Banner mit Hintergrundmusik im Netz – all das ist uns vertraut. Alltäglichkeiten, die ins Bedeutungslose abgleiten. Das Gehirn scheint sie auszusortieren. Nun entdecken die Produktstrategen die anderen Sinne – der Trend geht zum „Multisensual Branding“, der Markenkommunikation, die alle Sinne anspricht. So rückt neben dem Geruchssinn der noch weit stärkere Eindruck in den Mittelpunkt, der beim Käufer haften bleibt: Der taktile Reiz.
Alles, was greifbar ist, hinterlässt bleibende Eindrücke. Die Sucht der Menschen nach Berührungen scheint unendlich groß zu sein. Wellness-Massagen oder so genannte Kuschelclubs, in denen sich Fremde stumm umarmen, sind scheinbar notwendige Einrichtungen für einsame Seelen. Und jeder kennt die kleine Handbewegung im Supermarkt – per Fingerdruck die Frische des Brotes oder den Reifegrades einer Avocado prüfen. Auch das Eintauchen in den Testtiegel der Creme oder das Streichen über das weiche Fell einer Katze sind ganz spezielle, greifbare Erfahrungen.
Diese besonderen Erfahrungen will nun auch die Markenwelt für sich nutzen. Sie wird markanter, fühl- und greifbarer. Trendbeobachter diagnostizieren eine Entwicklung hin zu veränderten Materialien und Formen bei Produkten, damit sie sich im wahrsten Sinne „begreifen“ lassen. Nicht mehr weich und smooth kommen die Verpackungen daher, die Tendenz geht hin zum „Oberflächlichen“: Merklich auffällige Flakons, Taschen und Tiegel bevölkern langsam aber sicher den Markt.
Wie wir die Welt erfassen
Wir begreifen die Welt nur durch Tasten. Deshalb „erfassen“ wir einen Sachverhalt, wir „ersehen“ oder „erhören“ ihn nicht. Der Tastsinn ist unverzichtbar. Fehlt er, entwickeln wir kein eigenes Bewusstsein, kein Körperbewusstsein und kein Gefühl für unsere Umwelt. Ich bin „berührt“ oder „ergriffen“. Eine Angelegenheit geht mir „unter die Haut“. Diese Redewendungen beweisen: Unsere Gefühlswelt wird vollkommen durch unseren Tastsinn geprägt. Unser größtes Organ, die Haut ist unser Bote zwischen Berührung und Denken. Neurologen und Psychologen sehen im Tastsinn den wichtigsten Sinn überhaupt. Er geht ohne Umwege ins Gehirn, ist ein unmittelbarer und ehrlicher Sinn.
Das empfindlichste und wichtigste Tastorgan sind unsere Hände. Sie sind ausgestattet mit sage und schreibe 17.000 Nervenfasern, die meisten in den Fingerkuppen. Blitzschnell senden diese Rezeptoren ihre Informationen an das Gehirn und werden dort gespeichert. Schon das Neugeborene lernt über den innigen Körperkontakt zur Mutter den eigenen Körper kennen. Beim Streicheln, Kuscheln oder Stillen werden die notwendigen Körperreize, die für den kleinen Menschen zu einer lebenswichtigen Erfahrung werden, übertragen. Dadurch wird das Kind dann später seine eigene Begrenzung erleben und wissen: „Das bin ich – das sind die Anderen.„ Fehlt ihm diese Erfahrung, wird der kleine Mensch verkümmern und sterben. Wird sie ihm unzureichend zuteil, sind spätere psychische Schäden vorprogrammiert.
Wieder „oberflächlicher“ werden!
Jahrzehntelang ging der Trend bei Produktverpackungen zu superglatten Oberflächen, einfach in der Herstellung und massentauglich. Nun merkt man: Die sind reizarm, uninteressant und wirken irgendwie leblos. Neue Oberflächen müssen her: Strukturen, Prägungen, Riffelungen, geschliffene Kristalle, wie zum Beispiel der Luxusduft Tom Ford Black Orchid mit griffiger Rillenoptik. Oder sie überraschen mit einem Stück Stoff oder einer Kordel am Flaschenhals, wie bei den Düften Jeanne Lanvin von Lanvin, bei Velvet Kitten von Pussycat Deluxe oder Strip von Agent Provocateur. Oder auch geprägtes Papier mit Glanzeffekt bietet den Händen Neues und Überraschendes, beispielsweise der lamellenartige, glänzende Karton des Herrenduftes von Wolfgang Joop For Men.
Wirklich „Begreifbares“ bleibt hängen. Der Meinung ist schon lange der Star-Designer Jan von Borstel, jahrelang Creative Director für Prada Beauty in Barcelona, der beheizbare Sofas oder eine „Filztasse“ entwickelte: „Die Zeit des Plastik-Chic ist definitiv vorbei. Wir wissen alle wieder bleibende Werte zu schätzen. Nehmen wir einen Türgriff aus Bronze. Der bekommt mit der Zeit eine lebendige Patina, sieht nach zehn Jahren schöner aus, als direkt nach der Produktion. In ihm zeichnet sich Leben ab. Ein Plastik-Türgriff dagegen reift nicht, sondern veraltet.„ Eine Wertschätzung erlebt ein Konsument immer dann, wenn er erfährt, wie schwer zum Beispiel ein Flakon ist. Jan von Borstel: „Auf den ersten Blick kann ein Flakon anziehend auf uns wirken. Nehmen wir ihn in die Hand und stellen fest, dass er aus Plastik und federleicht ist, gibt es ein unterbewusstes Erlebnis und wir finden ihn nicht mehr so wertig. Das Gewicht sagt etwas über die Qualität aus.“
Und der Trend bei Materialien geht hin zu ursprünglichen Stoffen wie Metall, Holz oder Leder. Dr. Martin Gunwald, Psychologe und Leiter des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universiät Leipzig betont die Tendenz zum Natürlichen. „Man könnte die kommende Periode ‚Renaissance der Wechselhaftigkeit‘ nennen. Unser Leben wird viel interessanter, weil alles wieder fühlbarer wird. Der Tastsinn verlässt endlich seine Nischenposition„.